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EINE ABSOLUTE VOKALMUSIK Es kann in diesem kurzen Essay nicht darum gehen, eine umfassende Theorie der Lautpoesie zu entwickeln. Da es sich aber bei allen Texten des »Marakra«-Zyklus um lautpoetische Gedichte von mir handelt, also sozusagen eine lautpoetische Geschichte erzählt wird, möchte ich doch einige meiner Gedanken dazu skizzieren. Unter Wikipedia lesen wir folgende Definition: Lautpoesie und zeitgenössische Musik Wäre es nicht möglich, auch vokale Musik als reine, absolute Musik zu begreifen? Dazu müsste sie aber von allem außermusikalischen, sprachlich-semantischen Ballast befreit werden. Wieso lassen es die Komponisten weiterhin zu, dass vokale Musik durch die Verwendung von semantischen Wörtern, Sätzen und Gedichten sozusagen stets zum Textdiener degradiert wird, statt sich selbst zu verwirklichen? (»Textdiener« ist hier polemisch gemeint, denn durch die Hinzuziehung eines semantischen Textes wird die Musik dazu gezwungen, sich mit dem textlichen Inhalt auseinanderzusetzen, ob sie diesen nun stimmungsmäßig illustriert, ob sie sich dagegen wehrt, weil sie dies nicht tun möchte, oder ob sie sogar versucht, den Text zu ignorieren.) Lautpoesie wäre demgegenüber eine Sprache, die aus der Musik heraus erzeugt wird und die ganz in ihr aufgeht. Lautpoesie als absolute Kunst, die an keinen semantisch-programmatischen Inhalt gebunden ist. Der Konflikt zwischen nicht mehr intakter (atonaler) Tonsprache und noch intakter (semantischer) Wortsprache hat mich schon immer gestört. Dass zeitgenössische Komponisten ab den 1960er Jahren semantische Wortsprache in nicht mehr verständliche Einzelphoneme zerlegen, weil sie spüren, dass die ungebrochene Sprachverwendung in dieser Musik nicht mehr stimmt, ist für mich keine befriedigende Lösung. Mit der Lautpoesie bewegen sich beide Sprachen auf der gleichen Ebene des Erfindens. Die asemantische, aber in irgendeiner Form assoziative Wortstruktur von artifiziell geschaffenen lautpoetischen Sprachen steht in viel direkterem Bezug zur Musikstruktur artifiziell geschaffener Kunstwerke, als irgendwie verfremdete konventionelle, sozusagen natürliche Wortstrukturen, die ihrerseits in direktem Bezug zu Naturgegebenheiten stehen. Die Lautpoesie wäre somit in gewisser Weise die Sprache der Neuen Musik, eine dieser Musik kongruente Lyrik.
Lautpoesie als Kunstsprache Lautpoesie und musikalische Komposition Lautpoetische Texte und politisches Engagement? Lautpoesie ist für mich in gewisser Weise ein Aufschrei der Sprachlosen. Allgemeine Gedanken zur Lautpoesie Ich versuche mit asemantischen Texten verschiedene Kommunikationsformen und -möglichkeiten auszuloten. Wie weit vermag das zur Verfügung stehende Material zu tragen? Wie weit kann man ihm noch vertrauen? Es gibt auch einen persönlichen Aspekt, der mich zur Verwendung eigener lautpoetischer Texte gebracht hat: Ich bin innerlich so voll von der Lautpoesie, dass zur Zeit in meiner Musik gar kein Platz mehr für andere poetische Texte vorhanden ist. Wenn ich die vokalen Linien meiner Kompositionen höre, sprudelt das Lautpoetische nur so aus mir heraus. Dennoch kann ich mir als Weiterentwicklungsmöglichkeit vorstellen, semantische Texte durch lautpoetische Texte zu umspielen, zu erweitern und in ungewohnte Gebiete hinauszuführen. Das Unsagbare René Wohlhauser RENÉ WOHLHAUSER mira schinak für Sopran, Flöte und Klavier, auf ein eigenes lautpoetisches Gedicht (2006) Momentformen, kontrastreiche Strukturen und Charaktere zwischen Komplexität und Einfachheit, kombiniert mit einer besonderen Art von Lyrismus leiten das Stück ein und trachten danach, produktive Verbindungen einzugehen. Den daraus entstehenden Kraftlinien und den Auswirkungen ihrer formalen Dramaturgie auf die Veränderung des Wahrnehmungstempos galt dabei ein spezielles Augenmerk. Besonders deutlich kann diese Veränderung des Wahrnehmungstempos in der kontextuellen Einbettung des Antisolos des Klaviers erfahren werden. Im Hinblick auf eine frei diskursive musikalische Logik legte ich parallel zur Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen der Wahrnehmung das Gewicht auf die Entwicklung einer Grammatik der konstruktiven Folgerichtigkeit, bei der zwar stets mehrere Wege offen stehen, bei der aber der einmal eingeschlagene Weg als stimmig wahrgenommen werden kann. Damit soll eine Schlüssigkeit erreicht werden, die der Beliebigkeit eine Verbindlichkeit entgegensetzt. mira schinak mira schinak mischra ke hura nikna sama tok mo ro no go so lakme tokme smakra ki herö nokra simsa lock ’Srang für Sopran, Flöte, Klarinette und Violoncello, auf ein eigenes lautpoetisches Gedicht (2007) Das Stück folgt einer Konzeption, in der sich Bruchstücke immer wieder selbständig machen, sich aus dem bisherigen Zusammenhang herauslösen, sich neu zusammenfügen und somit eine neue Ausgangslage konstituieren, aus denen sich dann kompositorisch eine neue Richtung entwickelt. Und auch auf dem weiteren Lebensweg ist das Lebewesen mit der bruchstückhaften Auffassung der Welt konfrontiert. Bruchstücke als Metapher für (die jedem Lebewesen eigene) selektive Wahrnehmung, die trotzdem zu einer einheitlichen, sinnvollen Beurteilung zu kommen versucht. (Im Gegensatz zur Vorstellung einer absoluten (göttlichen?) Wahrnehmung, die alle denkbaren Aspekte gleichzeitig aufzunehmen und zu deuten in der Lage ist.) Bruchstücke als Bild für die bruchstückhaften Alltagserfahrungen. Das Leben, das aus disparatesten Eindrücken zusammengefügt wird und dennoch von vielen im Rückblick als Einheit dargestellt wird. Bruchstücke, die in ihrer jeweiligen Konstellation eine Eigendynamik entwickeln und (im Sinne der Chaostheorie) ungewohnte, neue Situationen schaffen. Niemand kann alles wissen. Unser Wissen in seiner bruchstückhaften Konstellation prägt unsere Lebensauffassung und unsere Sichtweisen, die sich oft konträr zu den Sichtweisen anderer Menschen mit einer anderen bruchstückhaften Lebenserfahrung verhalten. Menschliches Verhalten als Folge von Bruchstücken des herabgefallenen Wissens. Was bedeutet dies nun kompositorisch? Komplexe Mikrostrukturen gestalten, mit Bruchstücken aus einer bruchstückhaften Welt arbeiten, die sich zu neuen Klang-Konglomeraten zusammenfügen, die dem Publikum vielleicht neue Erfahrungen und Sichtweisen eröffnen. ’Srang Nallti gimmi kasari Kiam song trang gon Mimikra rakatotosiri rokome Mim tag molle sëën kon Mekoro risitotokara kramimi ouae iea uo … Riggli samma nolli gebbi Huk lak sol nimm Sokrak für Sopran, Flöte, Klarinette, Violoncello und Klavier, auf ein eigenes lautpoetisches Gedicht (2008) Wie lässt sich Klanglichkeit strukturell so komponieren, dass sie über sich hinausweist und Ausdruckstiefe erreicht? Dies sind einige der Fragen, die mich während der Arbeit an dieser Komposition beschäftigten. Es ging also darum, die Wirkung der Klangwahrnehmung, die Wirkungsweise der klangstrukturierten Zeit, der Zeitlichkeit des Klangflusses, der klanglich fließenden Zeit, der klanglichen Strukturierung der Zeit als Empfindungsqualität auf die Wahrnehmung zu untersuchen. Durch welche Perspektivenwechsel gelingt es flüchtigen Klangspuren, aus der schattenhaften Klanglichkeit herauszutreten und in klangliche Verkörperung des Ausdrucks, in reale Präsenz umzuschlagen und im Filter der Wahrnehmung hängenzubleiben? Letztlich ein Konzept der Sensibilisierung der Klangwahrnehmung. Dies erfolgt in diesem Stück mit einem klaren formalen Konzept: Im ersten Teil erwächst die Musik aus der vortonlichen Geräuschwelt. Im zweiten Teil ist der Ton gefunden und die Musik entwickelt sich aus diesem einen Ton heraus. Im dritten Teil explodiert der bisher zurückgehaltene Tonvorrat in einer Überfülle, die dadurch in eine globale Klanglichkeit umschlägt, grundiert von einer Geräuschschicht. Im vierten Teil kehren die Strukturen des ersten Teils in veränderter Gestalt wieder, indem die Spieler ihre Strukturen nicht mehr instrumental, sondern mittels Mundgeräuschen zum Klingen bringen. So sind alle Teile miteinander strukturell verbunden. Zudem geht es um die Erkundungen verschiedener Misch- und Verschmelzungsmöglichkeiten von Sprachklang und Musik: Sokrak sch s, chr tl, tux rex söx, schomo; Ss-sokraks. umu, su, lagu, res; sutamu, misorex, karamalogo; No, lagaro; söx rex, schomo; höx nex pux, molo; lax, moga, nox, wira. So, marago; uma suta rome; uma suta romelo; sak rak hak nak; najain noin for, ma; sik rak, saga; sö lö, fog pis, poka nika haka, mala; Iguur – Blay – Luup für Sopran solo, Sopran-Bariton-Duo und Sopran mit kleinem Ensemble (Bassflöte, Bassklarinette und Violoncello), auf eigene lautpoetische Gedichte (2009) In der Emblematik der fiktiven Sprache Sulawedisch bedeutet »Iguur« eine Metapher, die in »Blay« durch eine unerwartet hervorgerufene Resonanz verrätselt wird, um in »Luup« in veränderter, sozusagen geläuterter Gestalt und in anderem Kontext wieder aufzuerstehen. Verschiedene Texturtypen prägen das erste Stück Iguur für Sopran solo: Zu Beginn werden gedrängte Notschreie in die Stille geworfen, voneinander durch Spannungspausen getrennt. Allmählich wird dagegen dialektisches Kontrastmaterial infiltriert (quasi Gesprochenes). Nach einer Akzentuierung der Kontraste im 2. Teil, wird der 3. Teil viel dichter und bewegter, um dafür als Ausgleich am Schluss in langen Tönen und in einen ganzen Takt Pause zu münden. Die Glissandi stehen formal am Anfang des 4. Teils, der sich nun spezieller und experimenteller gestaltet, bis erstmals richtig Gesprochenes den Beginn des letzten Teils markiert, in dem verschiedene Texturtypen zusammenkommen. Das zweite Stück Blay für Sopran-Bariton-Duo ist ebenfalls durch verschiedene Strukturtypen in drei formal klar unterscheidbare Teile gegliedert, voneinander jeweils durch kurze gesprochene Zwischenspiele getrennt und durch ein System von Tempo-Modulationen sich allmählich beschleunigend. Während es sich bei den ersten beiden Teilen dieses Stücks um Kanons handelt, besteht der dritte Teil aus der Transformation eines Duos des Kanonmeisters aus dem 15./16. Jahrhundert, Pierre de la Rue, dem Zeitalter der Entstehung der Emblematik in der europäischen Kunst. Durch seine Dreiteiligkeit nimmt dieses mittlere Stück Bezug auf den ganzen dreiteiligen Zyklus in der Art eines Triptychons. Im dritten Stück Luup für Sopran und kleines Ensemble übernimmt der Sopran die Strukturen von Iguur mitsamt den Dritteltönen in veränderter Gestalt und tritt in musikalischen Dialog mit den anderen Instrumenten. Am Anfang hat nur der Sopran Dritteltöne, die Instrumente reagieren nicht darauf. Erst ab der Region des Goldenen Schnitts, der durch Takt 48 als dem einzigen Tacet-Takt des Stückes markiert ist, übernehmen auch die Instrumente Dritteltöne. Dafür gibt umgekehrt der Sopran ab der gleichen Stelle seine Veränderungen auf und bleibt gleich wie in Iguur. Der Titel Luup hat nichts mit dem englischen Wort »loop« zu tun. Durch diese Titelgebung wehre ich mich vielmehr bewusst gegen die Vereinnahmung bestimmter Lautkombinationen durch den modischen Sprachgebrauch. Iguur Soramo paritola some Sema no rome remoramo roma Blay Hagonamo moribola ralame bimo rosi? s, t g t g t g, r t, ch, schi ro, s g to re, margg Osi meama Masiome mogiame rapa dioma ülp tschar og matsch, saraba pomi Remi kun töwi be gela dozia qua. Luup wie „Iguur“ Charyptin für Sopran, Bariton, Flöte, Klarinette, Violine und Violoncello, auf ein eigenes lautpoetisches Gedicht (2010) In diesem Stück geht es um Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Interaktion, der Vermischung und des Rollentauschs zwischen vokalen und instrumentalen Klängen. Dem entspricht die Überlappung und gegenseitige Durchdringung individueller Zeitebenen, die somit zu so etwas wie einer Art neuen Dimension der Zeitwahrnehmung werden. Es geht um das Ausloten der verschiedenen Zwischenbereiche zwischen sowohl vokal als auch instrumental Geflüstertem, Gesprochenem und Gesungenem, um die Suche nach klanglichen und zeitlichen Zwischenräumen und nach einer anderen Kategorie von Material, das weder gesprochen noch gesungen wird. Es sollen zerbrechliche Zustände des vokalen und instrumentalen Ausdrucks hörbar gemacht werden. Das Stück besteht aus drei Zyklen. Der 1. Zyklus thematisiert das Neben- und allmähliche Ineinander der vokalen und instrumentalen Phrasen. Im 2. Zyklus entwickelt sich das Instrumentale aus dem Vokalen heraus und entfernt sich von diesem, indem es zunehmend den Zeitablauf anders organisiert. Konsequenterweise besteht der 3. Zyklus nur noch aus Vokalem, das jede Berührung mit dem Instrumentalen meidet und dadurch selbst sozusagen instrumental wird. Die lautpoetischen Texte reflektieren die angewandten (»kryptisierenden«) Kompositionsverfahren, indem beispielsweise der Titel Charyptin in den das Werk konstituierenden vokalen Duoteilen in auseinander gerissenen, lautklangähnlichen Textfragmenten versteckt ist und umspielt wird, ohne jedoch selber wortwörtlich in Erscheinung zu treten. Charyptin (Einleitung: Sopran) (1. Zyklus, 1. Phrase, Bariton) (2. Phrase, Sopran) (3. Phrase, Bariton) (4. Phrase, Sopran) (Bariton) (5. Phrase, Sopran) (Bariton) Pü (6. Phrase, Sopran) Scha ssaga ma Geremelebe (Bariton) Legere mere te Brro zigo Tschigaraz Brro digo so Scha ssaga (2. Zyklus, 1. Teil, Sopran) Scha ronagana sala Ma sore la magore Schamego (Bariton) Scharona mola Schame go Lo pot make Sale da gawe pero (2. Zyklus, 2. Teil, Sopran) (3. Zyklus, Bariton) Rüscha woreto (Sopran) To raba la Marakra Code Ø für Bariton solo, auf ein eigenes lautpoetisches Gedicht (2011) Ein »Code« ist u. a. ein Schlüssel zum Übertragen von chiffrierten Texten in Klartext und umgekehrt. So gilt beispielsweise im Morsecode ein Punkt als »Funktion« oder »Abbildung« des Buchstabens »e«. Oder in der Technik gilt die Geschwindigkeit als »Funktion« des Weges und der Zeit. Manchmal erleben wir eine Eingebung, wie wenn uns ein Code zufallen und uns durch eine plötzliche Einsicht etwas schlagartig klar machen würde, was wir vorher nicht verstanden haben. In diesem Stück gibt es einen plötzlichen, markanten Umschlagpunkt. Danach erscheinen die lautpoetischen Silbenfolgen des Anfangs in halbsemantische Textfragmente verwandelt, eingebettet in ein atmosphärisch und strukturell verändertes musikalisches Umfeld. Marakra Code Ø Marakra Code 2 (Sopran) (Sopran und Bariton) (Sopran) (Sopran) (Bariton) (Bariton) (Sopran und Bariton) (Bariton) (Sopran) (Bariton) (Sopran) Sikorimata Maro Kola mora Saro poramatuba Oratukamo Magofito Mareko Or Ama? Aloma (Sopran) (Bariton) (Sopran) (Sopran oder Bariton) (Bariton) (Sopran) (Bariton) Hauch als … (Sopran und Bariton) (Bariton) (Sopran) (Beide) |
Programm:
The Marakra Cycle [01] mira schinak (2006)* 11:10 [02] ’Srang (2007)* 10:29 [03] Sokrak (2008)** 10:32 Iguur – Blay – Luup (2009)*** 16:18 [07] Charyptin (2010)**** 12:40 [08] Marakra Code Ø (2011)***** 02:12 [09] Marakra Code 2 (2011)***** 16:16 total playing time: 79:52 Ensemble Polysono Guests: Tabea Resin, flute [01] · Marzena Toczko, violin [07] |
Pressestimmen:
Februar 2016 Pierre Rigaudière
Lautpoesie Der Schweizer René Wohlhauserist Komponist, Pianist, Bariton, Musikpädagoge, Theoretiker und Schriftsteller in Personalunion. So einiges von diesem künstlerischen Multitaskingfindet sich auf dieser CD vereint, die Wohlhauser mit dem Ensemble Polysonoeingespielt hat. Entsprechend ausgefeilt ist die interpretatorische Qualität! „The Marakra Cycle“ (2006-2011), eine Zusammenstellung von Stücken, denen selbstverfasste Poesie in Fantasiesprache zugrunde liegt, beinhaltet eine gehörige PortionEsoterik, aber auch geradezu Webern’sche Klarheit, kompositorisch tadellos gut ausgehört. Man könnte es auch so sagen: Wenn man Webern und Scelsi in einen Topf schmeißen würde, käme Wohlhauser dabei heraus. […] Dirk Wieschollek |