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MEER DES VERGESSENS Gelegentlich mag man rätseln, warum manche Musik hohen Ranges im Musikleben kaum beachtet wird und nur schwer bis überhaupt nicht den Weg ins Repertoire findet: beispielsweise die Werke von Roberto Gerhard. Seiner Musik ist eine glückliche Balance von konstruktiver Stringenz und Sinnlichkeit des Klangs, von höchstem kompositorischen Anspruch und spielerischer Leichtigkeit eigen, die man nur ganz selten findet. Vielleicht ist die Antwort auf diese Frage weniger im Werk des Komponisten zu finden als in seinem Lebensweg. Er gehört zur Generation der an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Geborenen. Komponisten dieser Generation hatten es – zumal in Europa – in mehrfacher Hinsicht schwer. Ihre Jugend wurde von den Verheerungen des Ersten Weltkrieges überschattet. Als sie in den 1920er Jahren ihre eigenständigen Positionen suchen und finden mussten, waren die emphatischen Leistungen der frühen Moderne bereits vollbracht. In ihren Reifejahren legten sich die Schatten von Diktaturen verschiedener Couleur über weite Teile des erneut auf einen globalen Krieg zutreibenden Europa und erfassten nach den vehementen Aufbrüchen der ersten beiden Dezennien des Jahrhunderts restaurative Tendenzen das Musikleben. Viele Künstler der Jahrhundertwende-Generation wurden Opfer von Repression und Verfolgung und waren, wenn sie die Anpassung verweigerten, oft genug zur inneren Emigration oder zur Flucht gezwungen – so auch Roberto Gerhard. Manche, etwa Viktor Ullmann, Gideon Klein, Erwin Schulhoff und Benjamin Fleischman, kamen ums Leben. Wenn die in Rede stehenden Künstler die Schrecknisse von Diktatur und Krieg überstanden hatten, sahen sie sich in der Jahrhundertmitte einer jungen Generation von Komponisten gegenüber, die alsbald die ästhetischen Debatten beherrschte. Über die Älteren schien »die Zeit hinweggegangen«. Nur die wenigsten – beispielsweise Ernst Krenek – konnten sich zeitlebens relativ breite Wahrnehmung sichern. Andere – etwa Erich Schmid und Berthold Goldschmidt – verstummten. Viele Musik glitt in ein Meer des Vergessens, das sich zwischen dem das immergleiche Repertoire reproduzierenden Klassikbetrieb und den auf die jeweils aktuelle Musik fokussierten Foren der zeitgenössischen Musik öffnete. Von diesem Schicksal war und ist auch die Musik Roberto Gerhards bedroht. Die hier eingespielten Werke stammen alle aus den 1960er Jahren. Sie lassen eine musikalische Handschrift erkennen, die ihre Wurzeln in der klassischen Moderne hat und der die Synthese von einer an Schönberg geschulten Methodik mit konzertanten Elementen sowie einer rhythmischen und klanglichen Prägnanz gelingt, wie sie von Strawinsky ausgeprägt wurden: »Dodekaphonisch, aber menschlich und sogar ein bisschen göttlich« – wie Frank Harders-Wuthenow einen Gerhard gewidmeten Aufsatz überschrieb. Concerto for 8 Das Concerto for 8 ist die älteste der hier versammelten Kompositionen. Zu seinem 1962 in einem Konzert der BBC uraufgeführten Werk bemerkte der Komponist: »Das Concerto for 8 ist Freunden aus Barcelona gewidmet: Señor und Señora Gomis und deren sechs Kindern. Meine Intention war, eine Kammermusik im Stile eines Divertimentos zu schreiben, beinahe im Geist der commedia dell’arte. Die acht Instrumente könnten so etwas wie dramatis personae darstellen, aber das, was sie spielen, sind rein musikalische Ereignisse, die keinerlei außermusikalische Vorstellungen hervorrufen oder illustrierend nachzeichnen sollen. Von den Eigenarten der commedia sind zwei adaptiert worden: die Lust am spontanen Einfall, der Improvisation und am Verkleiden und Maskieren – womit ich meine, dass die Instrumente auf unübliche Weise gespielt werden. Das Stück besteht aus acht Teilen, die ohne Pause aufeinander folgen«. Gemini, Leo, Libra Die drei Tierkreis-Stücke sind Frucht der letzten Lebensjahre des Komponisten. Während Leo und Libra durch Substanzverwandtschaft verbunden sind, behauptet Gemini in Besetzung und Struktur einen eher solitären Status. Komponiert wurde dieses Duo Concertante im Jahr 1966. In seinem klanglichen Gestus gibt es sich überwiegend rau, wild und von Spannungen zerfurcht. Episoden verschiedenster Konsistenz werden in raschem Wechsel kontrastreich gereiht. Dieser stete Wechsel der Texturen hält die Komposition fast durchweg »unter Feuer«. Nur gegen Ende gefriert die Musik in einem gleichwohl bebenden, vibrierenden Klangfeld, ehe sich die Energien erneut Bahn brechen. Leo und Libra eint ein melodisches Gebilde, das in beiden Werken wie ein Fremdkörper, wie ein Zitat wirkt – eine Melodie, die aus nur drei Tönen und ihren Oktavierungen gesponnen wird, simpel wie von Kinderhand und doch raffiniert. In Leo erscheint sie erst gegen Ende des Werkes, in Libra klingt sie schon bald nach Beginn erstmals an, wird aber auch hier – wie im Schwesterwerk – erst kurz vor Schluss wirklich etabliert. Leo, 1969 in Hanover/New Hampshire/USA uraufgeführt, verbindet mehrere Sätze zu einer durchkomponierten Großform. Ein erster Abschnitt hat präludierenden Charakter. Die in ihm präsentierten Gesten und Gestalten werden im folgenden bewegten Teil durchgeführt und sind Gegenstand eines hochvirtuosen Spiels. Zwei ruhige Partien mit charakteristischen Rufen der solistisch oder chorisch geführten Bläser umschließen einen con vivacità überschriebenen zentralen Abschnitt, der aus durch Repetitionen gekennzeichneten Strukturen hervorgetrieben wird. Der Finalsatz reiht wie ein Mosaik Passagen unterschiedlicher Konsistenz, flirtet gelegentlich mit tänzerischen, jazzartigen Idiomen und etabliert gegen Ende in der Klarinette über ostinat pulsierendem Klavierklang jene oben erwähnte Melodie. Libra wirkt, gemessen an Leo, kammermusikalischer gedacht und kleinteiliger geformt. Die Gitarre mischt dem Ensemble eine ganz eigentümliche Farbe bei. Acht in Charakter und Textur kontrastierende Teile formen das Werk. Konzertierende Passagen alternieren mit Interludien – in einem erhält die Gitarre Raum zur solistischen Entfaltung, ein anderes fesselt mit kristallin-zarter Klanglichkeit. Lassen wir den Komponisten abschließend zu Wort kommen, der Leo und Libra mit Werkkommentaren versehen hat: »Ein Titel kann als Bezugspunkt nützlich sein. Natürlich würde die Bezeichnung ›Opus soundso‹ es auch tun. Ich lehne es aber ab, Werken Ziffern zuzuweisen. Worauf es ankommt, ist allein die Musik. Wie relevant im Hinblick auf die Musik – oder auch anderweitig – ein Hörer einen Titel finden mag, liegt völlig bei ihm. Ich glaube, dass einige der bezeichnenden Charakteristiken des ›Löwen‹, wie sie die traditionellen Sternzeichen-Darstellungen zeigen, im Gemüt und Wesen der Person zu finden sind, die in diesem Zeichen geboren ist. Ich denke an die träge Friedlichkeit des Löwen – solange man ihn in Ruhe lässt – oder an seine ehrfurchtgebietenden Ausbrüche, sobald er gereizt wird. Ich wollte immer schon der unerschütterlichen, natürlichen, völlig unprätentiösen Eigenständigkeit des Löwen und seiner außergewöhnlichen Kampfeskraft huldigen… Leo zeigt, wie ich dies versucht habe«. »Libra, die Waage, ist zufälligerweise mein Sternzeichen … Ich weiss nicht, ob sich in Libra einzelne meiner eigenen Eigenschaften niederschlagen. Falls ja, würde ich unterstellen, dass – wie beim handschriftlichen Schreiben – dies aus einer blanken Unbewusstheit heraus entstanden ist, mit der das ›Schreiben‹ ausgeführt wird.« Jens Schubbe |
Programm:
[01] Leo for instrumental ensemble (1969) 21:12
[02] Gemini Duo Concertante for violin and piano (1966) 12:00
[03] Libra for flute, clarinet, percussion, guitar, piano and violin (1968) 16:44
[04] Concerto for 8 (1962) 11:00
total time: 65:44
Collegium Novum Zürich
Matthias Ziegler, flute [01/03] – Boris Previsic, flute [04] – Heinrich Mätzener, clarinet [01/03/04]
Tomas Gallart, horn [01] – Jean-François Michel, trumpet [01] – Ulrich Eichenberger, trombone [01]
Christoph Brunner, percussion [01/03] – Martin Lorenz, percussion [04]
Jacqueline Ott, percussion [01] – Viviane Chassot, accordion [04] – Frank Scheuerle, mandolin [04]
Mats Scheidegger, guitar [03/04] – Christoph Keller, piano/celesta [01/03/04]
Bettina Boller, violine [01/03] – Imke Frank, violoncello [01] – Käthi Steuri, double bass [04]
Rahel Cunz violin [02]
Christoph Keller piano [02]
Peter Hirsch conductor [01/03/04]
Pressestimmen:
Né d’un père suisse allemand et d’une mère alsacienne, naturalisé britannique mais catalan d’origine, Robert Gerhard i Ottenwaelder (1896-1970) étudie d’abord le piano avec Enrique Granados (jusqu’à la disparition tragique de ce dernier, en 1916), puis la composition avec Felipe Pedrell (musicien autodidacte et artisan du renouveau folklorique, qui permit à Quasimodo et à Cléopâtre d’entrer à l’opéra…) et Arnold Schönberg, dont il fut aussi l’assistant, cinq ans durant. Dans Vienne où il compose ses Sept haïkaï (1923) qui trahissent l’influence de Pierrot lunaire, il rencontre Berg et Webern avec lesquels il se lie d’amitié, ainsi que sa future épouse, Leopoldina Feichtegger.
De retour à Barcelone (1928), Gerhard continue de fréquenter l’avant-garde artistique, mais aussi politique. Proche du gouvernement républicain de Catalogne, il fonde un groupe radical avec les peintres Miró et Dalí, l’architecte et urbaniste Josep Lluís Sert : Agrupación d’Amics de l’Art Nou (Groupe d’Amis de l’Art nouveau). De Paris où il séjourne un temps, il assiste à la prise de la deuxième ville d’Espagne par les franquistes et décide de s’établir à Cambridge, grâce à une bourse d’étude. Vivant bientôt de choses et d’autres (enseignement, pièces pour le théâtre et la radio, commandes de la BBC, etc.), le créateur laisse derrière lui la guerre civile et un pays où il ne reviendra que de loin en loin.
Après des années cinquante marquées par le métissage (Falla, Stravinsky et Bartók sont aussi ses modèles), la dernière décennie de Gerhard n’est pas exempte de recherches – notamment dans le domaine de la symphonie et du quatuor à cordes. L’enregistrement qui nous occupe le confirme, regroupant quatre pièces conçues entre 1962 et 1969. Avec ses huit musiciens et ses huit parties enchainées, Concerto for 8 (1962) est la plus ancienne d’entre elles, qui vise « le style d’un divertimento, dans l’esprit de la commedia dell’arte quasiment » – spontanéité et déguisement compris. L’usage d’un accordéon et d’une mandoline contribue à son originalité timbrique.
Quelques années plus tard, le duo Gemini (1966) se distingue par des changements constants de texture, une âpreté et une tension reposant sur les agacements du violon tenu par Rahel Cunz, et des ruminations de piano, à l’occasion joué sur les cordes par Christoph Keller. Regroupant lui aussi peu d’instruments (deux vents, deux cordes, deux percussions), Libra (1968) mêle intimité et sections au caractère contrasté. On y apprécie la clarté avec laquelle le musicien propose un univers touffu, rendue avec excellence par Peter Hirsch à la tête du Collegium Novum Zürich.
Enfin, après ces Gémeaux et Balance, Leo (1969) évoque à nouveau le zodiaque, pour un hommage « à l’indolence pacifique du lion – tant qu’on le laisse tranquille – et à ses irruptions impressionnantes dès qu’on l’excite ». Après une ouverture rugissante, l’ensemble instrumental offre effectivement une pièce nuancée, alternant moments paisibles et d’autres plus bondissants, pétris de vents et cuivres aisément farceurs, de cavalcades pianistiques. Ces vingt minutes témoignent de l’influence vivace de Schönberg sur le compositeur catalan, avec une touche varèsienne, mais aussi de l’extraordinaire jeunesse d’un homme de soixante-dix ans.
LB
Die komplette Rezension auf klassik.com
Concerto for 8: […] Weit davon entfernt, elitär oder akademisch zu wirken, ist Gerhards Komposition von großer Spielfreude erfüllt und hier kongenial dargeboten durch das Collegium Novum Zürich, das 1993 zur Pflege zeitgenössischer Musik gegründet wurde. Peter Hirsch ist ein äußerst umsichtiger Leiter, der die vielfältigen Klangvaleurs sorgfältig abwägt, aber die Spontaneität nicht zu kurz kommen lässt. […]
02/2014, Sémele Número 5
La producción de Gerhard se caracteriza por un feliz equilibrio entre rigor constructivo y sensualidad sonora, entre un rigor compositivo del máximo nivel y una ligereza lúdica poco frecuente. Las piezas aquí grabadas datan todas de la década del 60 y son buena muestra de una escritura modernista, síntesis de una pátina melódica de influencias schönbergianas y stravinskianas (“dodecafonismo, pero de carácter humano e incluso con un punto divino”, que diría Frank Harders-Wuthenow).