Infotext:
ROBIN HOFFMANN Wer lockt hier eigentlich wen? Ist’s der Jäger, wie er den Birkhahn vor die Flinte lockt? Oder ist der Weidmann, wenn er so den Vogel mit seinem Pfeifchen hinterm Busch hervorholt, just dem großen Rufe der Natur gefolgt? – Bei deren Klang verblassen alle Künste selbst ernannter Rattenfänger. Nun ein munteres Birkhahn-Biotop im Konzertsaal. Zugegeben, die Tiere sind nicht allzu heil gelandet. Leicht zerzaust, so in alle Bestandteile zerlegt und neu zusammengesetzt – eher ein Biotop von Untoten, Birkhahn-Zombies, Wolpertingern. Doch den Viechern geht’s ganz gut dabei. Man braucht nicht viel, um sich unter Gleichgesinnten wohlzufühlen – etwas Rausch-Klangfarbe reicht. Die Tonhöhen, die man ihnen unterjubeln will, wie Kuckuckseier ins gemachte Nest gelegt, sind keine wirkliche Krise, lediglich eine kleine Alltags-Aufgeregtheit. Die wird dann auch souverän gemeistert – kein Problem für Birkhähne. Robin Hoffmann
DIETER MACK Kammermusik IV ist ein weiteres Stück einer Reihe von kammermusikalischen Kompositionen, worin ich mich mit den Beziehungen zwischen idiomatisch individuellem und kollektivem Spiel beschäftige. Während Kammermusik III eine Fokussierung auf individuelle ›musikalische Redensarten‹ eines Instruments oder eines Spielers thematisierte, bilden in der Kammermusik IV verschiedene instrumentale Kombinationen (mixturartige Mischungen) verschiedenste ›individuelle‹ Gruppen. Dies erfolgt in einem relativ strengen formalen Rahmen. Nach einer Einleitung, die die folgenden Abschnitte fragmentarisch und komprimiert vorwegnimmt, folgen acht Episoden mit jeweils individuellem Charakter und Tonfall. Alle Abschnitte sind gekennzeichnet durch a) einen eigenen Zentralton, b) eine bestimmte Art der Interaktion der jeweiligen gruppenbildenden Hauptinstrumente und c) verschiedene Kommentare durch andere Instrumente oder Gruppierungen. Hier bietet sich der Vergleich mit einem großen Haus an, das gleichsam den ›gesicherten‹ Rahmen vorgibt und der Betrachter/Zuhörer durch verschiedene Erlebnisräume wandert, die fast alle mit einer latenten Morbidität zum Zerfall neigen. Der Schlussabschnitt kann als scharfer ›negierender‹ Kommentar von außen – das Wegfallen der stabilen Mauern des Hauses – angesichts der vorhergegangenen, ›gesicherten‹ aber letztlich vom Ausdruck her brüchigen Episoden (die den Kern des Werkes bilden) charakterisiert werden. Die Singstimme, der kein Text zugrunde liegt, wird in diesem Stück wie ein Ensemble-Instrument und nicht solistisch behandelt, trägt aber durch ihre spezifische Intensität wesentlich zum Ausdruck des Werks bei. Postskriptum: Am Tage der Fertigstellung der Rohfassung des Werkes, dem 26. Dezember 2004, geschah das Tsunami-Desaster in Südostasien, was mich aus nahe liegenden biographischen Gründen besonders getroffen hatte. Deswegen möchte ich dieses Werk auch als Erinnerung an die Opfer der Katastrophe verstanden wissen, auch wenn es davor komponiert wurde. Dieter Mack
MARK ANDRE Der Titel verweist unmittelbar auf ein Kapitel aus der Offenbarung des Johannes in der Übersetzung von Martin Luther: »Und als das Lamm das siebente Siegel auftat, entstand eine Stille im Himmel etwa eine halbe Stunde lang.« Ich wollte diese Stille in Musik darstellen. »Ich bin das A und das O, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende«. Diese Verse vereinen ›Anfang‹ und ›Ende‹, die ich noch um Endlichkeit und Unendlichkeit ergänze. …ALS… ist einerseits eine musikalische Architektur der Stille und des Fühlbaren, die vom Dialog zwischen von vornherein entgegengesetzten Parametern und kompositorischen Kategorien gebildet wird; andererseits werden Affekt und Konzept miteinander verbunden. In tiefer Verbundenheit zu Wolfgang Stryi. Mark Andre
KLAUS HUBER »Unser Blick auf die Welt ist verschoben. Klaus Huber, 29.4.2002 In meinem Beitrag zur Festschrift ›75 Jahre Donaueschinger Musiktage‹ schrieb ich: »Soziologen analysieren: Weit über sechzig Prozent der musikkulturellen Reproduktion heutiger Gesellschaften geschieht auf virtuelle, indirekte, digitalisierte und ständig weiter manipulierte Weise. Hierfür ist der absolute Glaube an die Quantifizierbarkeit aller – auch der menschlichen – Werte unerlässliche Voraussetzung. Statistik ist die unangefochtene Herrscherin, die schließlich alles – fast alles – im Rachen des Konsums verschwinden lässt, mit beträchtlichen Gewinnen für allzu wenige … Das ›Verschwinden der Wirklichkeit‹, die im multimedialen Zeitalter mehr und mehr gegen virtuelle Wirklichkeiten eingetauscht wird, führt paradoxerweise keineswegs zur gleichzeitig eifrig propagierten ›superindividuellen‹ Freiheit, sondern geradewegs zu immer mächtiger sich entfaltenden Manipulationspotentialen. Fazit: Die Verdinglichung des Menschen und damit zwangsläufig auch seiner Künste schreitet unaufhaltsam voran.« Je tiefer wir in die Potentiale der Musik als Kunst eindringen, desto deutlicher zeigt sich, dass Musik ohne Transzendenz keinen Bestand hat. Noch drastischer als in anderen Künsten stellt sich in ihr die Frage: Was ist ›außen‹, also materialisierbar, was ist ›innen‹, also erlebbar, ohne materiell zu sein. In ihren tiefsten Wurzeln ist sie aber immer so etwas wie eine reale Darstellung von Welt im Medium ihrer Zeitlichkeit. […] In den zwölf Jahren meiner Beschäftigung mit arabischer Musik und besonders ihrer klassischen Musiktheorie begleitete die Auseinandersetzung mit dem Sufismus meinen Weg. Dabei stieß ich auf eine Ode des epochalen Universalgelehrten Ibn Siná-Avicenna, in welcher er Weg und Schicksal der menschlichen Seele in mystischen Bildern zeichnet und philosophisch erörtert. Man bedenke, Avicenna, der frühe Aufklärer um die erste Jahrtausendwende, fand keinen Widerspruch darin, sufistische Ganzheitserfahrung der Schöpfung in einer Ode zu besingen, die den existenziellen Weg der menschlichen Seele beschreibt. Ernst Bloch griff Avicennas Fragestellungen als einer der ersten in einem Text von 1952 wieder auf, in welchem er auch die Bedeutung analysiert, die Avicennas und Averroës Philosophie für die Entfaltung abendländischen Denkens hatte: Avicenna und die Aristotelische Linke. (Edition Suhrkamp 1963) Wenn ich nun meine, wir abendländischen Künstler müssten – nicht nur in unserer Ästhetik sondern mit unserer ganzen Existenz – uns der eine breite Gegenwart beherrschenden Verdinglichungswelle entgegenwerfen, so stellt sich die Frage: Wie leisten wir einen rational verankerten, nicht gänzlich wirkungslosen ästhetischen Widerstand? Jacques Derrida hat in seiner Frankfurter Rede bei der Überreichung des Theodor W. Adorno-Preises an ihn (2001) eine erstaunliche Aufwertung des Traum-Denkens vorgenommen. Derrida weist für den Traum eine hohe Rationalität nach, die jene des wachen Bewusstseins zu übertreffen vermag. Und das anhand einer Gedanken-Kette, die kein Geringerer als Walter Benjamin träumte und sorgfältig nachformulierte. Wäre es nicht an der Zeit, die innere, ganzheitliche Existenz des Menschen, das heißt seine Seele, als eine Wirklichkeit anzuerkennen, die ebenso rational auf das Weltganze bezogen ist wie alle äußeren Wirklichkeiten? Derrida hat hier einen ersten Schritt getan. Ich komme auf Avicennas Ode zurück, die mich fortan nicht mehr losließ. Sie führte mich vom ursprünglichen Konzept eines Cello-Konzertes bis hin zum 2002 in Donaueschingen uraufgeführten Werk. Hatte ich, immer in der Nähe von Avicennas Ode, bereits die Solistenbesetzung erweitert, so unterbrach mich jetzt die Gegenwart. Ich las im April 2002 ein bisher unveröffentlichtes Gedicht des palästinensischen Dichters Mahmoud Darwisch, das dieser im Januar 2002 im belagerten Ramallah niedergeschrieben hat. Seine Dichtung hat mich so tief berührt, dass sie mich von Avicennas Ode, die der konzeptuelle Hintergrund meiner Komposition geblieben ist, wegführte in die Gegenwart. Für mich aber ebenso verblüffend wie bestätigend, wenn Darwisch – ob bewusst oder unbewusst – in einer zentralen Strophe seines Gedichts (»Die Seele muss vom Reittier steigen und gehen auf ihren Seidenfüßen«) unüberhörbar Avicennas mystische Tiefe erreicht, tausend Jahre später. Auf Gegenwart reagierend, wie ich es nicht anders kann, hoffe ich, mit meinem Werk einen bescheidenen Beitrag zu leisten gegen die fortschreitende Verdinglichung des Menschen (samt seiner Seele…), zur Rettung des Menschlichen in einer Zeit, die sich anderen Zielen verschrieben hat. – Und das im vollen Bewusstsein einer extrem brutalisierten Gegenwart, nicht nur in Palästina. Un autre monde est possible. Mahmoud Darwisch ist mir hierin ebenso Vorbild wie, als der ganze Andere, mein Gegenbild. Hierzu Darwisch: Die Poesie ist nichts anderes als genau das. Sie ist jenes kleine Lebewesen, das nicht die Stärke besitzt, die man in ihm vermutet. Ihre Stärke besteht in ihrer extremen Zerbrechlichkeit. Poesie kann von einer sehr ungewöhnlichen Wirksamkeit sein, aber ihre Kraft entstammt der Erkenntnis der menschlichen Zerbrechlichkeit. Ich für meinen Teil habe meine eigene Zerbrechlichkeit zur Waffe gemacht, um den Stürmen der Geschichte die Stirn zu bieten. […] Die Verzweiflung bringt den Dichter Gott näher, bringt ihn zurück zur Genesis des Schreibens, zum ersten Wort. Sie straft die Zerstörungsmacht des Siegers Lügen, denn die Sprache der Hoffnungslosigkeit ist stärker als die der Hoffnung. Das Wort Trojas ist noch nicht gesprochen worden, und die Poesie ist der Beginn des Wortes. […] (Mahmoud Darwisch, Palästina als Metapher, Gespräche über Literatur und Politik, Palmyra-Verlag, Heidelberg 1998) Das Werk ist eine Rekomposition/Reduktion von Die Seele muss vom Reittier steigen (UA Donaueschingen 2002), bzw. Reduktion von …à l’âme de marcher sur ses pieds de soie… (2004). |
Programm:
Robin Hoffmann (*1970) [01] 11:54 Locken (2006) für Birkhahn-Septett Hanna Petermann • Andrea Nagy • Kristof Kerremans World Premiere Dieter Mack (*1954) [02] 16:47 Kammermusik IV (2004) für 17 Spieler Ensemble Modern Mark Andre (*1964) [03] 14:45 …ALS… (2001) Trio für Bassklarinette, Violoncello und Klavier Internationale Ensemble Modern Akademie (IEMA) Klaus Huber (*1924) [04] 30:32 …à l’âme de descendre de sa monture et aller sur ses pieds de soie… (2004) Rohan de Saram, Violoncello • Max Engel, Baryton total time: 74:00 |
Pressestimmen:
Locken nach Darmstadt Interpretation: Zu den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik, die alle zwei Jahre in Darmstadt stattfinden, locken nicht nur hochklassige Kompositions- und Interpretationskursen mit allem, was in der zeitgenössischen Szene Rang und Namen hat, sondern auch so manch außergewöhnliches Konzert. Was davon bleibt, muss wohl jeder Zuhörer zunächst für sich selbst entscheiden. Eine kleine Nachlese erscheint jedoch auch diskographisch festgehalten, in diesem Jahr zum ersten Mal beim jungen Label Neos. Vier Werke von Robin Hoffmann, Dieter Mack, Mark André und Klaus Huber bieten einen musikalischen Rückblick auf die 43. Ferienkurse 2006. Paul Hübner |