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J. S. BACH: GOLDBERG-VARIATIONEN BWV 988
Gedanken zu Werk und Interpretation
Ob Streichtrio, Cembalo oder Klavier – die Goldberg-Variationen sind mit Begriffen wie »Interpretationsstil« oder »Werktreue« nicht einzufangen. Charakter und Wert einer Interpretation richten sich bekanntlich nur sehr bedingt nach der Frage der »Stilgerechtheit« oder der »Klangfarbe« des gewählten Instrumentariums, wenngleich die Kritik und mitunter auch die Musikwissenschaft sich ganz gerne an quantifizierbaren und letztlich doch leicht nachvollziehbaren Parametern solcher Begrifflichkeiten ergötzen mögen.
Fragen von weder notierten noch notierbaren Artikulationsfeinheiten, der inneren Phrasierung einzelner Töne oder größerer Tongruppen etwa, der Tempowahl und dem inneren »rubato« mit seinem typischen »inégal«, der Anwendung spezifischer Spieltechniken sowie letztlich der künstlerischen Phantasie der Interpreten aktualisieren allemal die Lehre von Recht und Schlecht – freilich nicht im Sinne einer wissenschaftlichen Beweisführung, sehr wohl aber im Sinne und zum Zwecke jener »Gemüths-Ergetzung«, welche J. S. Bach bei der Veröffentlichung seiner Clavier Übung, bestehend in einer Aria mit verschiedenen Veränderungen vors Clavicimbal mit 2 Manualen, denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung verfertigt vorgeschwebt haben dürfte.
Die Aktualität von Bachs monumentalem Musterbeispiel barocker Variationskunst ist nicht zuletzt durch die Neugier der ausübenden Interpreten, die seinen Geheimnissen immer wieder von Neuem auf den Grund gehen wollen, hinlänglich verbürgt. So waren die Goldberg-Variationen schon 1985, also zur Zeit der Veröffentlichung der ersten Transkription für Streichtrio von Dmitry Sitkovetsky, bereits etwa fünfzig Mal auf Schallplatte eingespielt worden, wobei schon damals die meisten Aufnahmen vergriffen oder nicht mehr zu beschaffen waren.
In Wolfgang Schreibers aufschlussreicher Diskographieübersicht aus dem Jahre 1985 standen ihm lediglich noch neunzehn Aufnahmen zur Verfügung, wobei die überwiegende Mehrheit der Interpreten damals dem Cembalo im Verhältnis 3:2 den Vorzug gegeben hatte. Bach hatte das Werk im Gegensatz etwa zur Kunst der Fuge ja auch ganz eindeutig für ein zweimanualiges Cembalo konzipiert. Seit den siebziger Jahren begann sich zudem das Verhältnis der Cembalisten zu ihrem Instrument deutlich zu modifizieren: Gespielt wurden nun häufiger alte Originalcembali, z. B. von Christian Zell (Instrument 1728, am Cembalo: Alan Curtis) und Hans Ruckers (Instrument 1642, am Cembalo: Christiane Jaccottet), oder aber moderne, historischen Instrumenten nachgebaute wie etwa von William Dowd (am Cembalo: Gustav Leonhardt).
Die denkbar größte Resonanz sämtlicher Aufnahmen jedoch fanden die beiden musikalisch und pianistisch souveränen, ja kongenialen Aufnahmen des Kanadiers Glenn Gould aus den Jahren 1955 und 1981, gespielt auf dem modernen Konzertflügel. Kein Wunder also, dass Sitkovetsky seine Transkription für Streichtrio gleichsam »in memoriam Glenn Gould« sowie als Reverenz an die Feierlichkeiten zu Bachs 300. Geburtstag verfasste. Selbst wenn die Bedeutung der Gould’schen Aufnahmen mittlerweile mit teilweise spektakulären jüngeren Aufnahmen längst relativiert wurde, so wurden sie doch geradezu zum Inbegriff eines generellen künstlerischen Perfektionsanspruchs stilisiert, an dem der gewöhnliche sterbliche Künstler schicksalhaft zerschellen muss.
Literarischen Ausdruck erhielt solch existenzieller Fatalismus künstlerischen Daseins in Gestalt von Thomas Bernhards Roman Der Untergeher, der gleich zwei Pianisten an Goulds »Perfektion« verzweifeln lässt und eine ambivalent tragisch-ironische Meditation über Genie, Wahnsinn, Verzweiflung, Krankheit, Unglück und über die Frage entfaltet, ob es überhaupt erstrebenswert sei, künstlerisches Genie zu sein. Solches sei hier unbeantwortet, ebenso wie die Frage der Entstehung der Goldberg-Variationen, über welche die Musikwissenschaft auch heute noch rätselt. Nicht einmal über das Thema (Aria) sind sich die Experten einig, ob es auch wirklich von Bach selbst stamme.
Sicher ist, dass dieses Thema in der Form einer Sarabande im zweiten Clavierbüchlein für Anna Magdalena Bach aus dem Jahre 1725 zu finden ist, und dass die ersten acht Basstöne der Aria mit denen der Chaconne avec 62 variations von Georg Friedrich Händel, welche im Jahre 1733 veröffentlicht wurde, identisch sind. Wer nun aber wen und zu was inspiriert haben soll, ist zumindest bis heute Spekulation. Definitiv ins Reich der Anekdote – wenn nicht der Fabel – gehört die viel zitierte Darstellung in Johann Nikolaus Forkels Bach-Biographie, wonach der Auftraggeber der russische Gesandte am kursächsischen Hof in Dresden, Graf Hermann Carl von Keyserlingk, gewesen sein soll.
Dieser habe, gemäß nicht verifizierbarer Auskünfte zweier Bach-Söhne, unter Schlaflosigkeit gelitten und deshalb zum Zwecke der Erheiterung einige Klavierstücke »so sanften und etwas munteren Charakters« beim Vater Bach bestellt, die ihm sein Hofcembalist und Schüler Bachs, Johann Gottlieb Goldberg, nachts vortragen solle. Dieses durch und durch romantische Kunstbewusstsein, wonach Musik zum Wundermittel wird, welches die romantische Krankheit, die in der Trauer um den verlorenen Glückszustand oder der vergeblichen Suche nach ihm besteht, zu heilen oder doch zu lindern vermag, dürfte wohl den Geschmack von Forkels romantisch-biedermeierlichem Publikum getroffen haben, lässt sich allerdings mit dem Kunstbewusstsein Bachs und seiner Zeit kaum in Einklang bringen: Für Bach war Musik eine menschliche Weise, in erster Instanz Gott zu loben, auch wohl den weltlichen Souverän zu verherrlichen und schließlich der geistlichen oder auch nicht-geistlichen Erbauung des ausübenden wie rezeptiven Hörers zu dienen. Da die Partitur keine offizielle Widmung an den Grafen Keyserlingk enthält und überdies keine weitere Quelle für Forkels Version der Entstehungsgeschichte besteht, wird diese Geschichte mittlerweile kaum mehr ernst genommen.
Weit aussagekräftiger erscheinen deshalb Strukturanalysen des Werkes selbst, welche eine abermals überbordende Fülle an dramaturgischen Qualitäten, stilistischem Raffinement und mathematisch formal konstruktiven Komplexitäten ans Tageslicht schaufeln, die hier aufzuzählen – geschweige denn zu interpretieren – der Platz niemals ausreichen würde. Gerade die Interpretation mit einem Streichtrio jedoch lässt diese komplexen Strukturen sowie die ohnehin über weite Strecken dreistimmige Textur des Werkes höchst plastisch zur Geltung kommen und ermöglicht damit ein analytisch sinnliches Hören, ohne dabei auf eine harmonisierend homogene Klanglichkeit verzichten zu müssen. Ausgehend von Sitkovetskys Transkription wurden in die vorliegende Aufnahme zusätzliche Elemente der neuen Bärenreiter Urtext Bach-Ausgabe eingebaut.
Der äußerst sparsame Einsatz von Vibrato sowie die Verwendung von drei seltenen historischen Originalinstrumenten von Jacobus Stainer in alter Stimmung dienen dabei nicht nur einer neuen Klanglichkeit im Sinne eines erstmaligen Interpretationsansatzes in der Interpretationsgeschichte dieses Meisterwerkes, sondern vermitteln anhand geschärfter Dissonanzreibungen sowie der puren Nackt- und Reinheit des barocken Tons und seines harmonischen Geflechts jene komponierte und zeitlose Modernität im Œuvre Bachs, die erst durch eine vollkommene und unverschnörkelte Transparenz der Textur jene göttliche Harmonie auszustrahlen vermag, welche Bach stets vorschwebte und den wahren »Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung« dienen soll.
Jürg Dähler EMAA
Executive Master in Arts Administration University Zurich
Programm:
Goldberg-Variationen (1741) Ersteinspielung der Version für Streichtrio von Dmitry Sitkovetsky unter Berücksichtigung Gespielt auf den Originalistrumenten von Jacobus Stainer [01] 04:15 Aria [02] 01:55 Variatio I [11] 01:25 Variatio X [18] 01:52 Variatio XVII [23] 01:22 Variatio XXII [31] 01:37 Variatio XXX Quodlibet Gesamtzeit: 78:56 Swiss Chamber Soloists |
Pressestimmen:
Johann Sebastian Bach: „Goldberg-Variationen BWV 988“ Johann Sebastian Bach hat seine großartigen Goldberg-Variationen „vors Clavicimbal mit 2 Manualen“ geschrieben. Die bekannteste Interpretation der Neuzeit stammt wohl von Glenn Gould, der sie gleich zweimal einspielte. Ihm ist auch die Transkription für Streichtrio gewidmet, die der junge russische Geiger Dmitry Sitkovetsky 1984 anfertigte und selbst mit Gerard Caussé (Viola) und Mischa Maisky (Violoncello) aufgeführt hat. Rund 25 Jahre später ist diese Fassung, die schnell Eingang in das Streichtrio-Repertoire gefunden hat, nun mit neuen Vorzeichen versehen worden von den Swiss Chamber Soloists. Dahinter verbergen sich drei international geschätzte Kammermusiker und Solisten, die dem seit 1999 bestehenden Ensemble angehören. Die drei spielen auf frisch restaurierten und in den Originalzustand zurückversetzten Instrumenten des Tiroler Geigenbauers Jacobus Stainer (1619-1683), dessen Instrumente nördlich der Alpen zu seiner Zeit mehr geschätzt wurden als die von Stradivari. Ihr Klang ist warm, eher dunkel und mischt sich gut untereinander. Die drei Interpreten verwenden die alte Stimmung, wenig Vibrato, spüren dem Ideal eines puren, scheinbar körperlosen Tons nach. Virtuos und in perfekter Klangbalance spielen sie dabei fantasievoll mit Klangfarben. Ob man lieber das Bachsche Stimmengeflecht mitdenkt oder abwechslungsreiche Barockstimmung fühlen will – jeder kommt bei dieser Aufnahme auf seine Kosten. Die Edition ist sorgfältig gemacht und hat ein informatives Booklet. Bewertung: grossartig
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